11.05.2012

4A_741/2011: Genugtuungsanspruch einer AG bei unlauterem Wettbewerb

Kann eine juristische Person Genugtuung wegen Persönlichkeitsverletzung durch unlauteren Wettbewerb verlangen? Wenn ja, ist 25'000 Fr. ein unangemessen hoher Betrag? Das Bundesgericht hat beide Fragen im heute aufgenommenen Urteil 4A_741/2011 vom 11. April 2012 bejaht.

Die Theorie

Gemäss UWG 9 stehen einer Person, die durch unlauteren Wettbewerb u.a. in seinem Kredit oder beruflichen Ansehen verletzt wird, verschiedene Rechtsbehelfe zur Verfügung. Bei schwerer Verletzung kann sie namentlich auf Genugtuung nach OR 49 klagen (UWG 9 III). Solche Persönlichkeitsrechte geniessen die juristischen Personen des schweizerischen Rechts grundsätzlich im gleichen Umfang wie die natürlichen (ZGB 53). Im Gegensatz zum Schadenersatzanspruch verlangt jedoch die Genugtuung keinen materiellen Schaden, sondern eine seelische Unbill, deren Anwendbarkeit bei juristischen Personen umstritten ist.

Die Vorgeschichte

Die Y AG ist im Seehandel tätig und Inhaberin der Internetseite Y.ch. 2009 kündigte sie fristlos das Arbeitsverhältnis mit dem Angestellten X. Dieser hatte aber den Domainnamen Y.com seit langem erworben und veröffentlichte darauf nach seiner Kündigung eine mit Y.ch leicht verwechselbare Webseite, die das Logo und Kontaktinformationen der Y AG aufwies. Ferner vorhanden waren u.a. Fotografien von abgenutzten und verrosteten Schiffen sowie von zwei Mitgliedern des Verwaltungsrats in Freizeitbekleidungen. Auf Verlangen der Y AG deaktivierte schlussendlich X die Webseite zwei Monate nach deren Veröffentlichung.

In einem Urteil der genferischen Cour de justice wurde X zur kostenlosen Übergabe des Domainnamen Y.com an die Y AG sowie zur Zahlung von 25'000 Fr. samt Zinsen als Genugtuung für immaterielle Unbill („indemnité pour tort moral“) verpflichtet. Dagegen erhob X Beschwerde am Bundesgericht.

Der Entscheid

Dass die Veröffentlichung der irreführenden und herabsetzenden Webseite unlauteren Wettbewerb nach UWG 2 und UWG 3 I lit. a bildete, sowie die allgemeine Voraussetzung der Rechtswidrigkeit, Schuld und Kausalzusammenhang erfüllte, bestreitet der Beschwerdeführer nicht (E. 4.1). Streitig bleiben das Vorliegen einer schweren Persönlichkeitsverletzung, die den Anspruch nach OR 49 begründet, sowie die Höhe des Betrags angesichts der Rechtsprechung zur Genugtuung.

Das Bundesgericht hat zunächst darauf Stellung genommen, ob einer juristischen Person eine Genugtuung zustehen darf (E. 6.1). Es erwähnt die seit 1934 entwickelte Rechtsprechung, die dies als zulässig erachtet (zuerst mit BGE 60 II 326, wonach die Qualifikation einer AG-Werbung als „Schwindel“ einen Genugtuungsanspruch rechtfertigt), sowie die verschiedenen Lehrmeinungen dazu. Das Bundesgericht lässt sich jedoch von den gegenteiligen Auffassungen nicht überzeugen und bestätigt die Anwendbarkeit der seelischen Unbill. Insbesondere angeführt ist die historische Ausdehnung der Persönlichkeitsrechte für juristische Personen seit Einführung des ZGB; ferner, dass eine juristische Person, genauso wie sie durch ihre konstituierende Organe handelt, auch durch dieselben Organe eine immaterielle Unbill erleiden können solle.

Zur Frage des Vorliegens einer schweren Persönlichkeitsverletzung (E. 6.2) führt der Beschwerdeführer an, die Würdigung der Cour de Justice verletze die Beweislastregel von ZGB 8. Diese Regel bestimmt aber lediglich den Träger der negativen Folgen bei Beweislosigkeit: da der im vorliegenden Fall von Y.com erweckte Eindruck als negativ und unprofessionell und somit persönlichkeitsverletzend durch die kantonale Instanz unter Würdigung der diversen Fotographien tatsächlich anerkannt wurde, kann von den Folgen einer Beweislosigkeit keine Rede sein (vielmehr habe sich der Beschwerdeführer auf willkürliche Beweiswürdigung berufen können, was er aber nicht tat). So hat das Bundesgericht diesen Vorwurf als unbegründet erachtet.

Schliesslich wird die Höhe der Genugtuung behandelt (E. 6.3). Mangels einschlägiger Rechtsprechung zu OR 49 (sei es für juristische oder natürliche Personen) muss sich das Bundesgericht mit derjenigen zu OR 47 befassen, i.e. Genugtuung bei Tötung von Menschen und Körperverletzung. Unter Berücksichtigung verschiedenen Urteilen, die bei der Tötung eines Elternteils oder bei schwerer Körperverletzungen eine Genugtuung von 15'000 bis 25'000 Fr. vorsahen, betrachtet das Bundesgericht die Leistung von X an die Y AG in Höhe von 25'000 Fr. als unangemessen hoch. Es erkennt allerdings an, dass die fragliche Seite, wenn auch nur für zwei Monate, auf das World Wide Web veröffentlicht und somit der Allgemeinheit weitgehend zugänglich gemacht wurde. Eine angemessene Genugtuung betrage somit 10'000 Fr.

So wurde die Beschwerde teilweise gutgeheissen. Obwohl das Bundesgericht die von der kantonalen Vorinstanz anerkannte Persönlichkeitsverletzung und Genugtuungsanspruch an sich bestätigte, wird der geschuldete Betrag auf 10'000 Fr. herabgesetzt. Das Urteil könnte einen wichtigen Präzedenzfall im eher unerforschten Bereich der Genugtuungsansprüche nach UWG 9 III bilden.

5 Kommentare:

  1. Trotz der stetigen Rechtssprechung des Bundesgerichts, verstehe ich nicht, wie eine juristische Person eine seelische Unbill erleiden kann.

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    1. Es geht anscheinend um diese Einheit zwischen der juristischen Personen und ihren Organen, die dann selber die Unbill erleiden können. Die EGMR hat ziemlich ähnlich entschieden in Comingersoll S.A. v. Portugal, wo eine AG Genugtuungsansprüche wegen überlanger Verfahrensdauer geltend machte. Aus der Übersicht:

      "The Government contended, in particular, that a commercial company could not claim compensation for non-pecuniary damage.
      [...]
      Among the matters which the Court took into account when assessing compensation were pecuniary damage, that is the loss actually suffered as a direct result of the alleged violation, and non-pecuniary damage, that is reparation for the anxiety, inconvenience and uncertainty caused by the violation, and other non-pecuniary loss.
      [...]
      In the light of its own case-law and the practice of the Committee of Ministers and the member States of the Council of Europe, the Court held that the possibility that a commercial company might be awarded compensation for non-pecuniary damage could not be ruled out.
      [...]
      In the case before it, the fact that the proceedings in issue had continued beyond a reasonable time must have caused Comingersoll S.A., its directors and shareholders considerable inconvenience and prolonged uncertainty, if only in the conduct of the company’s everyday affairs. The applicant company had in particular been deprived of the possibility of recovering its claim earlier and that claim remained outstanding. In that connection, the Court considered that the applicant company had been left in a state of uncertainty that justified making an award of compensation.

      Ruling on an equitable basis, as provided for by Article 41, the Court awarded the applicant company PTE 1,500,000 [= ca. 7500 €] for the damage sustained."

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  2. Mangels Empfindungsfähigkeit kann die jur. Person auch nicht (Meinung BSK Heierli/Schnyder). M.E. handelt es sich vielmehr um eine Reflex-Unbill, welche aber nur beim Organ der jur. Person auftreten kann.

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    1. Überraschenderweise sind Heierli/Schnyder doch eben im Urteil als eine der Lehrmeinungen zitiert (zu Unrecht?), welche der strittigen Rechtsprechung zur Anwendbarkeit der immateriellen Unbill nach OR 49 bei jur. Personen zustimmen:

      "CHRISTIAN HEIERLI/ANTON K. SCHNYDER (in Basler Kommentar, Obligationenrecht I, 5e éd. 2011, n° 7 ad art. 49 CO) et HARDY LANDOLT (Zürcher Kommentar, 3e éd. 2007, nos 15/16 ad art. 49 CO), reconnaissant que les personnes morales peuvent être atteintes dans leurs intérêts personnels, tels le droit au nom, la protection de l'honneur et celle de la sphère privée et secrète, adhérent à la jurisprudence qui permet d'accorder à celles-ci une indemnité pour tort moral sur la base de l'art. 49 CO."

      Das Argument der fehlenden Empfindungsfähigkeit ist aber wohl vertretbar und wird im Urteil auch erwähnt:

      "PIERRE TERCIER (le nouveau droit de la personnalité 1984, ch. 2041 p. 269) est d'avis que si le tort moral est défini strictement, on ne voit pas comment les personnes morales pourraient ressentir des souffrances, ni surtout comment il serait possible d'apaiser celles-ci par le versement d'une somme d'argent. Pour FRANZ WERRO (La responsabilité civile, 2e éd., 2011, ch. 172 p. 55), les personnes morales n'ayant pas de perception de la souffrance, il est contestable d'admettre qu'elles puissent subir un tort moral."

      Und leider lehnt das Bundesgericht diese Lehrmeinungen ohne wirkliche Auseinandersetzung ab (bloss dass sie nicht überzeugend seien). Als allgemeine Begründung angeführt werden nur die obenerwähnten historische Entwicklung und Einheit der juristischen Person mit ihren Organen – welche an deine Reflex-Unbill-Theorie nahe heranzukommen scheint.

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  3. Das BGer hat hier scheinbar fehlerhaft zitiert. Richtigerweise wird die Unbill von Heierli/Schnyder abgelehnt (korrektes Zitat: BSK OR I-Art. 49 N 7, 5. Auflage, Basel 2011). Ja, ich bin deiner Meinung, wenn es zu diesen "kuriosen" Sätzen bezüglich "unité d'action etc" kommt. Man könnte hier meiner Meinung nach auch von einer "Einheitstheorie des Handelns und Erleidens einer seelischen Unbill" sprechen. Aber mangels Empfindungsfähigkeit dieser Unbill finde ich die (konstante) Rechtsprechung schon sehr gewagt. Im Hinblick darauf, dass aber gewisse unehrenhafte Aussagen ganze Unternehmenswerte (siehe Kirch-Gruppe 2002) zerstören resp. Börsenkurse (siehe Facebook 2012) zum Einsturz bringen können, muss man vielleicht eine Neudefinition von Unbill anstellen.

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